Der Ursprung des Streichbogens

Sucht man nach dem Ursprung des Streichbogens, muss wohl zuerst der möglicherweise aus dem Jagdbogen entstandene Musikbogen untersucht werden. Der Musikbogen, das einfachste Saiteninstrument aus der Familie der Zithern, ist ein elastischer gekrümmter Stab, der eine Sehne oder Saite spannt. Bei den Völkern Südafrikas, Südamerikas und Ozeaniens noch heute zu finden, hat er eine Länge zwischen 80 cm und 120 cm. In Ostafrika ist er zum Teil bis zu 3 m lang. Die Saite wird entweder mit einem Stöckchen angeschlagen oder durch das Reiben mit einem aufgerauten Stäbchen zum Schwingen gebracht. Seltener wird sie gezupft. Durch Veränderung der Bogenkrümmung (hierdurch ändert der Spieler die Spannung der Sehne und somit die Tönhöhe), Abgreifen der Saite auf den natürlichen Schwingungsknoten (Flageolett) oder durch „Stimmschlingen“, mit deren Hilfe der Musiker die Saite unter-teilen und somit die Tonhöhe variieren kann, sind einfache Tonfolgen zu erzeugen.
Wohl die frühesten Belege für einen Musikbogen finden sich in einer Höhlenmalerei aus der Altsteinzeit, etwa 15000 - 10000 v. Chr.. Diese Felsmalereien in den Höhlen Trois Frères (Südfrankreich) stellen tanzende, in Tierhäuten vermummte Zauberer mit Masken dar. Eine dieser Figuren, die als Bison verkleidet ist, hält einen bogenähnlichen Gegenstand in der Hand, über dessen Bedeutung sich die Fachwelt bis heute nicht einigen konnte. Da aus paläolithischen Funden bisher nur Pfeifen bekannt sind, sind sich die Experten nicht im klaren, ob es sich bei dem in Abb. 1 dargestellten Objekt um eine Längsflöte oder einen Musikbogen handelt. Hierbei ist jedoch nicht auszuschließen, dass Musikbogen im Gebrauch waren, deren Materialien jedoch die Zeiten nicht überstanden haben. Als sicher gilt, dass der Bogen als Jagdwaffe in dieser Zeit in verschiedenen Teilen der Erde eingesetzt wurde, und so geht A. Buchner in seinem Handbuch der Musikinstrumente in seinen Überlegungen weiter und glaubt, dass „der prähistorische Jäger die beim Schuss der Bogensehne hervorgebrachten Laute beachtete“ und wahrscheinlich begann, „sie auch ohne Absicht zum Schießen anzureißen, was ihm Vergnügen bereitet haben mochte. Mit der Zeit kam er dann darauf, dass Bögen von unterschiedlicher Länge und Spannung verschieden hohe Töne von sich geben. Wenn er mit dem Mund das Bogenende zusammenpresste, die Bogensehne spannte und beim Zupfen nach der Tonhöhe die Spannkraft abschätzte, mit der die Sehne den Pfeil abschießen würde, musste er bemerken, dass die Mundhöhle den Ton der Sehne verstärkte. So entdeckte er wahrscheinlich unbewusst nicht nur den Resonator, sondern auch ein Musikinstrument. Der in der Höhle Trois Frères abgebildete Magier hält das obere Bogenende im Mund, mit der Linken drückt er das untere Ende an sich und mit der Rechten reißt er die Bogensehne an.“
Die Qualität der Höhlenzeichnung erschwert es etwas, dieser Theorie zu folgen. Eine rechte oder linke Hand zu definieren, die die angegeben Tätigkeiten ausführen sollen, wäre sehr gewagt und spekulativ. Es könnte sich hier genauso gut um einen Jäger mit Pfeil und Bogen handeln.
Interessant für die Frühgeschichte des Streichbogens scheint auch eine Höhlenmalerei in Nordwest-Bulgarien (Abb. 2). Im Handbuch der Musikinstrumente schreibt Buchner dazu:
„Diese Höhlenmalerei stellt einen Musik-bogen mit Streichbogen dar. Die Abbildung ist ein Bestandteil der Felsmalereien in der Rabisch-Höhle bei der Stadt Bjelogradtschik, die Komposition lässt zwei Ebenen erkennen. Die obere stellt eine Gruppe tanzender Frauen und nackter Männer dar, die sichtlich mit dunklem, ockerfarbenem Kaolin und mit dem Finger gemalt sind. Das feuchte Mikroklima der Höhle hatte die Felsoberfläche ausgewaschen und zerstört, die Farbe aber wirkte als schützende Isolationsschicht und unterlag den Erosionseinflüssen nicht. So hatten sich die Bilder in ein plastisches Relief verwandelt, die Natur selbst verewigte so die Originalmalerei und bewies deren Echtheit. Die Zentralfiguren des unteren Gemäldeteiles sind zwei Musiker. Einer hält einen Bogen in lotrechter, ihm zugewandter Lage in der Linken, mit der Rechten scheint er die Bogensehne mit einem Streichbogen oder einem Reibstab zum Klingen zu bringen. Die zweite Figur trägt eine Zweimembranentrommel auf der Brust und schlägt sie mit beiden Händen. Obgleich dieser Fund noch nicht genauer unter-sucht und auch noch nicht datiert worden ist, darf man über seine ungeheure Bedeutung für die Instrumentenkunde schon jetzt Überlegungen anstellen.“
Sollte eine genauere Untersuchung dieser Malerei deren Echtheit bestätigen und die Interpretation der Darstellung eines Streichbogens in diesem „Gemälde“ sich erhärten, so liegt hier, auch wenn eine genaue Datierung der Entstehung dieser Felszeichnung noch nicht erfolgte, eine der frühesten Darstellungen eines Streichbogens vor. Es könnte sich hier jedoch auch um die versehentlich spiegel-verkehrte Darstellung eines Jagdbogens mit dem dazugehörigen Pfeil handeln. Anhand der bei Buchner abgebildeten Skizzen dieser Höhlenmalerei wäre eine weiterführende Interpretation zu gewagt.
Ein Beleg für das Vorkommen des Musikbogens in Südafrika sieht Buchner in einer Felsmalerei im südafrikanischen Cape Town (Abb. 3). Ein Buschmann hält in der rechten Hand einen, von den anderen auf der Darstellung zu sehenden sieben Bögen in der Schweifung unterschiedlichen, Bogen. Ein Köcher mit Pfeilen liegt ihm zu Füßen. In der Tat könnte die dargestellte Person eine musikalische Handlung verrichten. Ist dies jedoch mit der von Buchner vorgebrachten Eindeutigkeit zu belegen und geht er mit der Äußerung: „Ein Buschmann hält den Bogen in der rechten Hand und berührt mit ihm die Bogensehnen von sieben weiteren Bögen.“ und seiner Schlussfolgerung auf eine höhere Entwicklungsstufe, „auf der sieben Bögen ein einziges Instrument bilden, während der Bogen in der Rechten des Musikers bereits die Funktion des heutigen Streichbogens übernommen hat“, nicht etwas weit? Könnte hier nicht auch ein Jagdbogenmacher dar-gestellt sein, der mehrere fertige Bögen vor sich liegen hat und gerade die Sehne eines neuen Bogens spannt? Auch hier ist eine Interpretation dieser Quelle in Richtung instrumentenkundlicher Funde nicht eindeutig.
Für das Vorkommen von Streichinstrumenten in den Hochkulturen Mesopotamiens (3000 v. Chr.), Ägyptens (Frühzeit 2900-2160 v. Chr., Spätzeit 712 - 332 v. Chr.), Judäas (ca. 1000 v. Chr.) sowie in Griechenland und dem Italien der Etrusker finden sich keine Belege. Hier waren Idiophone und Aerophone sowie Chordophone im Gebrauch, letztere wurden jedoch ausschließlich gezupft oder mit Plektren aus Holz, Bein oder anderen Materialien erregt.
Gelegentlich erscheinen in der Literatur Hinweise auf den Gebrauch von Streichinstrumenten zur Zeit der Entstehung der Bibel. So wird im Brockhaus/Riemann Musiklexikon unter dem Stichwort Geige u.a. folgendes erwähnt: „…z.B. übersetzt Luther 1. Sam. 8, 6, 1523 fiddeln, 1534 geygen.“ Hier läge ein wichtiger Anhalts-punkt für das sehr frühe Vorkommen von Streichinstrumenten vor. Bei genauerer Untersuchung des hebräischen Urtextes wird man erkennen müssen, dass bei Luther ein Übersetzungsfehler vorliegt. Es kann sich hier nicht um ein Streichinstrument handeln. Neuübersetzungen sprechen vielmehr von „Handpauken … und Zimbeln“ bzw. wird in „Die gute Nachricht“ an gleicher Stelle vom „Klang der Lauten und Tamburine“ berichtet. Damit kann dieser Beleg nicht als Beweis für die Entwicklung des Bogens heran-gezogen werden, zeigt aber den Stellen-wert des Instrumentes bzw. der Instrumentengruppe um 1530.
Ein sehr frühes, heute noch im asiatischen Raum bei buddhistischen Mönchen zu findendes Streichinstrument ist das Ravanastron. Um dieses Instrument rankt sich die Legende, dass es von Ravana, dem König von Ceylon, der um 5000 v. Chr. regiert hat, erfunden worden sein soll. Über den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte ist jedoch nichts bekannt. Es ist aber überliefert, daß das Instrument mit Harz eingeschmiertem Rosshaar gespielt wurde.
Erste stichhaltige Hinweise auf Streichinstrumente im mittelasiatischen Raum finden sich in Schriftstücken bedeutender Gelehrter, wie al-Farabi (…950), Ibn Sina (…1037) und Ibn Saila (…1048). Die Heimat dieser drei Gelehrten befand sich östlich des Amu-Darja (Oxus), in den Provinzen Sogd und Choresm. Bei der Klassifizierung des Musikinstrumentariums in ihren Schriften werden Chordophone erwähnt, deren Saiten man dadurch zum Klingen bringt, dass man sie mittels anderer Saiten oder irgendwelcher saitenähnlicher Gebilde reibt. Durch diese Schriftstücke lokalisiert Bachmann den Ursprung des Streichbogens nachvollziehbar in Mittelasien.
Auf der Wandmalerei in Abb. 4 aus dem 9./10. Jahrhundert ist deutlich eine Person zu sehen, die ein Streichinstrument spielt. Diese Wandmalerei wurde bei Ausgrabungen eines Palastes in Tatschikistan entdeckt. Da dieser Palast im 11. Jahr-hundert zerstört und die Wandmalerei Ende des 10. Jahrhunderts übertüncht wurde, muss dieser Bildbeleg spätestens im 10. Jahrhundert entstanden sein.
Untermauert wird die Entstehung des Streichbogens in Asien durch den Artikel über China von Liu Jingshu und Martin Gimm in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“. In dem die Zeit um 581 - 960 (n. Chr.) behandelnden Kapitel verweisen die Autoren auf Grabreliefs des Wu Jian (846-918) aus der Zeit der Fünf Dynastien (907-960) und dessen Zeitgenossen Duan Anjie (Ende des 9. Jahrhunderts). Dieser berichtet aus der Vielfalt von ca. 300 Instrumententypen unter anderem von „zwei allerdings kaum populär gewordenen Streichinstrumenten letztlich wohl iranischer Herkunft, xiqin (zweisaitige Laute, mit dem Bambusbogen zwischen den Saiten gestrichen) und yazheng (siebensaitige Streichzither mit Bambus-bogen zwischen den Saiten gerieben“. Die Beschreibung des Instrumentes xiqin könnte auch auf die zweisaitige chinesische „Geige“ erh-hu (siehe Abb. 5) zutreffen, die heute noch gespielt wird. Sein Korpus aus Hartholz hat oft eine sechs- oder achteckige Grundform. Die Decke ist mit Schlangenhaut bezogen. An dem Hals aus einem Bambusstab sind zwei Saiten in Quint-Stimmung befestigt. Wie beim xiqin wird der Bambusbogen zwischen den Saiten geführt. Ob es sich beim erh-hu, das im oben erwähnten Artikel nicht erscheint, um eine andere Bezeichnung des xiqin oder um eine Entwicklungsstufe dieses Instrumentes handelt, konnte nicht herausgefunden werden. In der greifbaren Literatur über persische Musik und das Instrumentarium dieser Zeit werden Streichinstrumente nicht erwähnt.
Als National- und Volksstreichinstrumente in Asien sind das indische Sarangi, die pakistanische Sarinda, in der Mongolei das Morinchur oder auch das kambodschanische Tro-Khmer bekannt. Im Gamelan auf Java kommt dem Rábob, einer mit einem Spieß versehenen Geige persisch-arabischen Ursprungs, eine besondere Aufgabe zu. Zur Grundmelodie musizieren in selbständigen Gegenstimmen die Längsflöte Suling und das Rábob. Auch bei den afrikanischen Völkern finden sich einfache Streichinstrumente. Die Literatur gibt jedoch keine Informationen über das Alter, die Entstehung oder die Verbreitungswege dieser Streichinstrumente. Über Bogenformen oder verwendete Materialien ist leider auch nichts bekannt.

Bildnachweis:

Abb. 1: Buchner, Alexander: Handbuch der Musikinstrumente. Hanau/M. 21985, S. 20.
Abb. 2: ebd., S. 27.
Abb. 3: ebd., S. 26.
Abb. 4: Bachmann, Werner: Bogen. In: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Band 1. Kassel 21994, Sp. 1636.
Abb. 5: Buchner, Alexander: Handbuch der Musikinstrumente. Hanau/M. 21985, S. 224.

Anke Gerbeth